Title: PowerPoint-Pr
1Mythen und Modelle des Sprachursprungs(in
unterschiedlichen Wissenskulturen)
Prof. Dr. Wolfgang Wildgen
Vortrag im Zentrum philosophische Grundlagen der
Wissenschaften, Universität Bremen
5. Dezember 2006 1715, SFG 3070
2- Inhaltsverzeichnis
- 1 Mythen oder Modelle (übersprungen)
- 2 Die Vielfalt der Sprachursprungsmythen
- 3 Die Version des Alten Testaments
- 4 Der griechische Mythos der drei Weltalter
- 5 Vom Mythos zu ersten vernünftigen und
natürlichen Modellen im 18. Jh. - 6 Aktuelle Modelle des Sprachursprungs oder nur
neue Mythen? - 7 Einschränkende Bedingungen für jedes
wissenschaftliche Modell des Sprachursprungs - 8 Die funktionale Kontinuität zwischen Mythen und
Modellen
3Mythen und Modelle Wo liegt die Grenze
- Mythen sind für den eingeweihten Gläubigen einer
Religion Inhalte von besonderer Würde und tiefer,
unergründlicher Wahrheit. Dagegen sind
alltägliche Urteile unzuverlässig, subjektiv, ja
oft trügerisch, täuschend. In diesem Sinne einer
dichterisch mit dem Siegel unergründlicher
Wahrheit versehenen Erzählung begegnen wir dem
Begriff Mythos bei Homer, d.h. im
vorsokratischen Griechenland.
4- Vom Standpunkt einer anderen Kultur betrachtet,
einer geografisch oder historisch entfernten,
wird daraus aber eine phantasievolle Geschichte,
eine Mär, vielleicht sogar eine freche Lüge. Die
Römer benützten den Begriff fabula, den wir in
fabulieren in seiner negativen Bedeutung
vorfinden. - In der griechischen (sokratischen) Aufklärung
wird dagegen das gewöhnliche Wort, der Logos, zum
Ideal des richtigen Redens und Denkens
emporgehoben.
5Sprachursprungsmythen Entwicklung in der Neuzeit
- In der Renaissance werden, zumindest in der
Kunst, die antiken Mythen der christlichen
Bilderwelt hinzu-gefügt. - Die hermetische Bewegung versucht, die Einheit
des Mythos durch Rückgriff auf chaldäische und
ägyptische Mythen (wieder) herzustellen und
gefährdet damit den Wahrheitsanspruch der
christlichen Bibel. - Die Reformation und Gegenreformation werden diese
Bewegung abwehren und dabei extreme Denker wie
Giordano Bruno, der das Christentum auf
ägyptische (vormosaische) reine Mythen
zurückführen und gleichzeitig rational
(kopernikanisch) fundieren wollte, verurteilen.
6- Nach dem zähen Behauptungskampf des
Rationalis-mus gegen Feudalsystem und Klerus im
18. Jh.(Fr. Revolution) wird der Mythos von den
Romantikern wieder entdeckt. Charakteristisch ist
das Sammeln von Mythen und Märchen durch die
Brüder Grimm. - Die Bewegung wird für die nationale Neubesinnung
instrumentalisiert und schließlich von Wagner und
Chamberlain zu einer Form geführt, die in
Rosen-bergs Mythus des 20. Jh. in der Nazi-Zeit
ihr hässlichstes Gesicht zeigt. - Mythos ist jetzt nicht nur zur haltlosen
Phantasterei, sondern gar zur Technik des
politischen Betrugs und zum Instrument des
Völkermordes geworden (vgl. Cassirer, 1945 The
Myth of the State).
7Modell Entwicklung des Konzepts
- Der Begriff Modell, wird in erster Linie für
die im Maßstab verkleinerte Darstellung eines
Originals benützt. - In der Nachbarschaft von Theorien, wie Newtons
Mechanik, Maxwells Wellenlehre, Einsteins
Relativitätstheorie, Plancks Quantenmechanik wird
er positiv umgewertet werden. - Er wird zum Inbegriff der wissenschaftlich
garantierten Wahrheit und beerbt damit in der
Wertschätzung den antiken Mythosbegriff - Allerdings entwickelt sich im Laufe des 20. Jh.
eine Skepsis bezüglich Theorien, besonders
solchen, welche den Menschen und die Gesellschaft
betreffen. Sie erscheinen häufig als beliebige
Konstruktionen, die zu dekonstruieren gilt.
8Dialektik von Mythos und Modell
- In dieser dialektischen Perspektive scheinen
Mythen und Modelle fast als Varianten eines
Konzepts sprachlich gestaltete, mehr oder
weniger zuverlässige Auseinander-setzungen mit
der Wirklichkeit. - Dass Mythos eine gewisse Relevanz, ein Gewicht
der Fragestellung voraussetzt und Modell eher
verniedlichend wirkt, mag im Folgenden
zweitrangig sein, denn Fragen nach dem Ursprung
der Welt, des Menschen, der Gesell-schaft sind
immer gewichtig. Der Zweifel bezieht sich eher
auf die Qualität möglicher Antworten. - Die Qualität der Antworten entwickelt sich
gemeinsam mit den Gesellschaften und deren
kulturellen (intellektuellen) Niveau. Die Frage,
ob Modelle besser sind als (frühere) Mythen ist
letztlich die Frage nach der Möglichkeit eines
kulturellen Fortschritts.
9Die Vielfalt der Sprachursprungsmythen
- Bei der Durchsicht der Mythen wird deutlich, dass
sie in enger Verbindung zu zentralen kulturellen
Erfin-dungen stehen Jagd, Ackerbau, Viehzucht,
Stein- und Metallverarbeitung usw. - Große Naturgewalten spielen eine wichtige Rolle
die Sonne (helldunkel), die Winde, vulkanisches
Feuer, Erdbeben, Flutwellen. Sie bestimmen den
Relevanzhorizont des Mythos. - Die Schöpfung der Sprache ist eng mit der
Schöpfung des Menschen verbunden sie kann als
magisches Wort dieser vorausgehen, oder das Wort
wird dem Menschen gegeben (bevorzugt als Name,
Benennung des vorher Geschaffenen).
10Der Mensch wird zuerst sprachlos geschaffen
- Im Hopi-Mythos wird den Menschen vom Zwilling
Sotukriang die Sprache verliehen, und zwar je
nach Hautfarbe eine verschiedene. Hier werden
also Sprachursprung und Sprachverschiedenheit
simultan erklärt, wobei die Hautfarbe (letztlich
das Klima) als Grund der Differenz genannt wird.
Viele Sprachursprungsmythen beinhalten eine
nachträgliche Ausstattung des geschaffenen
Menschen mit Sprache. - In einigen Mythen versucht der Schöpfer mit
seinen Geschöpfen zu kommunizieren oder er
erwartet von ihnen, angesprochen, angebetet zu
werden. Er schafft so lange weitere Wesen, bis er
dieses Ziel erreicht hat.
11- In einem Mythos aus Mikronesien schafft Gott
Menschen, aber sie verstehen ihn nicht, da sie
taubstumm und einfältig sind. Er vervollkommnet
ihren Körper, öffnet ihnen Augen und Ohren,
befähigt sie, sich zu bewegen und löst ihnen
schließlich die Zunge. Einen ähnlichen Ablauf der
Begabung des Menschen finden wir im Mythos des
amerikanischen Indianervolkes Winnebago. Hier
verleiht der Erdenbilder den Geschöpfen
nachein-ander Verstand (Gedanken) ? Zunge ?
Seele und öffnet ihnen den Mund, so dass sie
atmen. - Im Mythos der Quiché-Maya wird der Mensch
geschaffen, damit es bessere Wesen als die Tiere
gibt. Im Unter-schied zu diesen Geschöpfen
zeigten sie höhere Fähig-keiten - Und die Menschen sprachen, unterhielten sich,
sahen und hörten, liefen und ergriffen Dinge.
(Steinwede und Fürst, 2004 147)
12- Die genannten Mythen bestimmen gleichzeitig eine
hierarchische Abfolge von Fähigkeiten, quasi eine
evolutionäre Sequenz.
Mikronesien Winnebago
Schöpfung des Menschen (quasi im Rohzustand) Schöpfung des Menschen (quasi im Rohzustand)
Verstand (Gedanken)Zunge (Artikulation)Seele (Fühlen)Mund (Atem, Phonation) KörperverfeinerungAugen, Ohren (Sinne)Bewegung (Motorik)Zunge (Sprechen)
13- In vielen Mythen lehrt Gott die Menschen
sprechen, zeigt ihnen die Namen der Dinge (im
Inka-Mythos). Das Sprechen kann aber auch von
Tieren gelernt werden. Der sibirische Mythos der
Tschukschen bestimmt die Raben als Lehrer - Die Raben krächzen, die Menschen krächzen
zurück (ibidem 83). - Affen spielen im Mythos der Tolteken eine Rolle.
Wie in anderen Mythen, gibt es hier Zyklen der
Schöpfung und Zerstörung. Dabei verbrennen die
Menschen zu roten Steinen oder werden zu Affen.
Der Affe wird als eine Stufe der Reduktion, der
Regression gesehen, was zumindest einen
Zusammenhang stiftet, der mit Darwins These
kommensurabel ist.
14Zwischenfrage Haben alle Kulturen Mythen
(Erklärungen des Sprachursprungs)?
- Entgegen der seit Durkheim geläufigen Ansicht,
gerade primitive Kulturen hätten Mythen,
Rituale, Magie, behauptet Douglas (1996) und
belegt dies an Bei-spielen, dass es ebenso wie
heute immer schon Kulturen gab, die auf rituelle
Formen und religiöse Formen weitgehend verzichten
und deren Gebrauch für unsinnig halten (z.B. die
Pygmäen-Kulturen in Afrika). - Die soziale Konstruktion von Mythen ist an
gewisse Formen des Zusammenlebens, der Offenheit
/ Geschlossenheit des Sozialsystems gebunden. - Soziale Strukturen die eher geschlossen sind,
erzeu-gen auch globale Mythen, feste Rituale und
stark verbindliche Rollensysteme.
15Mythische Grundlagen moderner Modelle
- Sicher gab es vor der Jungsteinzeit (dem
Neolithikum) ganz andere Kulturen und Mythen. Aus
den überlieferten Mythen lässt sich immerhin eine
Folk-Theorie ablesen, nach der entweder gewisse
Sprechakte ein magischer Sprechakt, eine
Benennung, eine Anbetung am Anfang standen oder
in der die Sprache auf andere kognitive,
sensorische, motorische Fähigkeit aufbaut bzw.
vom Tier (den Raben) gelernt wird oder vom
degenerierten Menschen, dem Affen, verlernt wird.
- Da die oben beschriebenen Mythen Kulturen
entstammen, die nicht zum westlichen
Traditionsstamm gehören, mögen sie für jene
Vielfalt stehen, die insgesamt existiert. - Die biblische Erzählung und der griechische
Mythos wirken dagegen über das Mittelalter und
die Renaissance direkt als Vorläufer der ersten
Theorieansätze im 18. Jh.
16Die biblische Erzählung der Schöpfung
- Im ersten Buch Moses (Genesis) werden zwei
Schöpfungs-mythen zusammengefügt - Gott schuf die Welt in sechs Tagen. Am sechsten
Tag wurden zuerst die Tiere, dann die Menschen
(als Mann und Weib) geschaffen. - Gott schuf den Mann aus Erde vom Acker und blies
ihm den Odem des Lebens in seine Nase
(Genesis,Erstes Buch 27). - Dann setzte er den Menschen in den Garten Eden.
Er ließ Bäume dort wachsen einer dieser Bäume
trug verbotene Früchte es war der Baum der
Trennung von Gut und Böse, der eine
ethisch-moralische Erkenntnis erlaubte, die Gott
reserviert war. Die Tiere wurden auch aus Erde
gemacht, die Frau aber wurde aus der Rippe des
Mannes geformt, sozusagen durch eine Art
(pflanzlicher) Verpfropfung.
17Sprachschöpfung als Taufe
- Die Benennung der Tiere überlässt Gott dem
Menschen Adam (Genesis, Erstes Buch 219). - Und Gott der Herr machte aus Erde alle die Tiere
auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel
und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe,
wie er sie nennte denn wie der Mensch jedes Tier
nennen würde, so sollte es heißen. - Auch der Frau gibt der Mann den Namen (in Luthers
Übersetzung) Männin. - Diese Sprachgebung im Garten Eden, bei der Gott
an Adam die Benennungsgewalt delegiert (und damit
auch die Gewalt über Tier, Pflanze und Frau),
folgt der Schöpfung (durch Gott) und sie ist ein
Taufakt des Menschen, der damit verbindliche
Regeln erlässt.
18Die Vielfalt der Sprachen
- Der Mythos von Babel löst die Diskrepanz zwischen
dieser ein für alle Mal von Adam angelegten
Benennung und der nicht übersehbaren Diversität
der Sprachen. Im Abschnitt 11 des Buches Genesis
wird gesagt Es hatte aber alle Welt einerlei
Zunge und Sprache. - Diese Einigkeit gipfelt in der Hybris des
Turmbaus zu Babel, den Gott verhindert - Und der Herr sprach Siehe es ist einerlei Volk
und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies
ist der Anfang ihres Tuns nun wird ihnen nichts
mehr verwehrt werden können von allem, was sie
sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns
herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren,
dass keiner des anderen Sprache verstehe! So
zerstreute sie der Herr von dort in alle Länder,
dass sie aufhören mußten, die Stadt zu bauen.
19Der Mythos von den Weltaltern
- In der hellenischen Antike wird dieser Mythos von
Hesiod (griechischer Epiker, 7. Jh. v. Chr.)
berichtet. Nach ihm schufen die unsterblichen
Götter die redenden Menschen, ein Geschlecht, das
wie im Paradies lebte (im goldenen Zeitalter) es
wurde durch weniger glückliche Geschlechter (im
silbernen und erzenen Zeitalter) abgelöst. - Ab dem 6. Jh. v.Chr. bildeten sich alternative
Sichtweise heraus, die entweder auf natürliche
Prozesse (in der Naturphilosophie beschrieben),
auf pure Willkür (bei den Sophisten) oder auf
einen Dämon, eine innere Seelenkraft, letztlich
auf die Vernunft (bei Sokrates) setzten. - Letztere Ansicht ist eigentlich eine
Weiterentwicklung religiöser Vorstellungen.
Dennoch erlitt Sokrates die Todesstrafe wegen
Gotteslästerung und Verführung der Jugend.
20Beitrag der Renaissance
- Die Renaissance brachte schließlich das antike
Erbe (von Ägypten über den Hellenismus bis zur
römischen Spätantike) wieder zur Geltung. - Die Naturalisierung der Ursprungsfrage prägte
nach den Wirren von Reformation und
Gegenreformation die Philosophen des 17. Jh. (im
Mechanismus von Descartes und im Empirismus von
Locke). Zentrales Thema der Philosophie wurde die
Ursprungsfrage aber erst mit Condillac, Rousseau
und Herder im 18. Jh. Im Prinzip kann man diese
Denklinie mit den Ansätzen in der Antike
verbinden, d.h. sie setzt die anti-mythologischen
(aufklärerischen) Ansätze in Griechenland des 5.
vorchristlichen Jh.s fort.
21Sprachursprungstheorien des 18. Jahrhunderts
- Die naturrechtliche Komponente wird bereits bei
Samuel Freiherr von Pufendorf (1632-1694)
deutlich. In seinem Hauptwerk De jure naturae et
gentium libri octo, 1672, bringt er den Ursprung
der Sprache in Zusammenhang mit der kulturellen
und sozialen Evolution nach Lukrez und mit der
Gesellschaftsphilosophie von Hobbes (1588-1679).
In den Kapiteln zur Sprache übernimmt Pufendorf
die Begründung des Lukrez Bedürfnis errang der
Dinge Benamung und weist eine impositio, d.h.
Einsetzung der Namen ab dieser würde die
gesellschaftliche (oder gar die allgemeine)
Gültigkeit fehlen. Einerseits gibt die Natur
Sachverhalte vor, die für den Menschen relevant
werden, so dass er davon eine Vorstellung bildet.
Konstitutiv für die Sprache ist aber ein
gesellschaftlicher Konsens, dem das Bedürfnis der
gegenseitigen Hilfe zu Grunde liegt, d.h. die
Sprache setzt die Gesellschaft und diese die
Sprache voraus.
22Ursprungsmodelle der Aufklärung
- Die sensualistisch-empiristischen Ansätze und die
Konzeption, dass die Sprache eine Antwort auf
grundlegende Bedürfnisse ist (und natürlich auf
deren Unterschiedlichkeit und Veränderung), ist
sehr klar bei Condillac ausgeprägt. Dessen
Essai sur lorigine des connaissances
humaines erschien 1746. Er lässt den Menschen
sich stufenweise über den Zustand des Tieres
erheben. Im sozialen Verkehr teilen sich die
Menschen ihre Bedürfnisse durch natürliche Laute
und Gesten mit. Es kommt zu einer Koevolution des
Denkens und der Zeichen, wobei letztere
insbesondere die Gedächtnisfähigkeiten
außerordentlich erweitern. Später wird die
Sprache der natürlichen Empfindungen und der
Gesten durch eine organisierte Lautsprache
ergänzt, weiterentwickelt, und schließlich werden
in den heutigen Sprachen die Bereiche von Mimik
und Gestik zurückgedrängt (dies ist die These des
gestischen Ursprungs der Lautsprache).
23Ursprung der Sprache aus der Leidenschaft
- Jean Jacques Rousseau (1712-1778) entwickelt eine
pessimistische Kulturtheorie, nach der der Mensch
für die kulturelle Entwicklung mit moralischem
Verfall zahlen muss. Im Zusammenhang seiner
1756 publizierten Schrift Discours sur
lorigine et les fondement de linégalité parmi
les hommes verfasste er ein Kapitel über den
Sprachursprung, das posthum (1781) publiziert
wurde. - In Abgrenzung zu Condillac, dessen
wissenschaftliche Ergebnisse er im Detail
anerkennt, stellt Rousseau eine alternative
Konzeption vor, bei der die Emotion, die
Leidenschaft und nicht Wahrnehmungen und
Bedürfnisse zur Entstehung der Sprache geführt
hätten. Diese stehe somit der Musik näher als der
darstellenden Kunst und sei im Prinzip figurativ,
d.h. die Metapher sei der Grundtypus des
Bedeutens gewesen noch bevor es präzise
Denominationen und Beschreibungen gab.
24Johann Gottfried Herder (1744-1803)
- Er steht zwischen französischer Aufklärung und
beginnender Romantik, zwischen Kant und seinen
Kritikern, z.B. dem schwärmerisch, dunklen
Hamann. Auch seine Theorie(n) des Sprachursprungs
sind Zwitterwesen. - Ein starker Nebeneffekt der engen Verbindung des
sich entwickelndem Verstandes und der Sprache ist
ein Sprachrelativismus des Denkens. - In der Konsequenz der Verschiedenartigkeit der
Sprachen kann dann eine kulturelle
Verschiedenheit des Denkens (der Völker)
angenommen werden. - Das Denkens wird als inneres Sprechen (seine
Kette von Gedanken wird eine Kette von Worten,
ibidem 85) charakterisiert.
25Evolutionstheorie vor und bis Darwin
- Die naturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem
Ursprung von Pflanze, Tier und Mensch, kann bei
Carl von Linné als Nullpunkt ansetzen. In seiner
großen Systematik der Pflanzen und Tiere von 1737
versucht er die Klassifikationen, die seit der
Antike üblich waren, z.B. in der Zoologie und
Botanik des Aristoteles, auf eine exakte, d.h.
auf natürliche, überprüfbare Merkmale achtende
Beobachtungsbasis zu stellen. - Systematischeren Zweifel an der Konstanz der
Arten äußerte seit 1800 Jean Baptiste de Lamarck.
Er griff auf die seit der Antike akzeptierte
Lehre vom natürlichen Drang aller Wesen nach
Vervollkommnung zurück. Veränderte
Umweltbedingungen zwängen die Tiere, sich in
bestimmter Weise zu vervollkommnen.
26Aufhebung der Konstanz der Arten
- Die Fortschritte der Geologie zwangen die
Wissenschaftler zur Aufgabe der Hypothese von der
Konstanz der Arten, da sie in verschiedenen
geologischen Schichten aufeinander folgende und
verschiedene Tier- und Pflanzenwelten nachweisen
konnten. - George Cuvier (1769-1832) versuchte,
naturwissenschaftliche Evidenz und
Schöpfungslehre durch seine Katastrophentheorie
zu versöhnen. In verschiedenen Erdepochen lebten
danach jeweils unterschiedliche, in der
jeweiligen Epoche konstante Arten. In einzelnen
Katastrophen (vergleichbar der Sintflut) wurden
diese Arten ausgelöscht und eine neue Welt von
Pflanzen und Tieren wurde geschaffen.
27Vor dem Eklat
- Die zugrunde liegende geologische Hypothese einer
Folge von Katastrophen als alleinige und
punktuelle Ursache der Veränderung wurde durch
den Geolo-gen Charles Lyell (1797-1875)
insbesondere in seinem Hauptwerk Principles of
Geology demon-tiert. Stattdessen wurde die
Hypothese eines kon-tinuierlichen Wandels
aufgestellt (ein philosophischer Vertreter des
Kontinuitätsgedanken war bereits im 17. Jh.
Leibniz). Die Situation war also nach 1830
angespannt, die alten Theorien (z.B. Cuviers) und
damit der Einklang mit dem Schöpfungsbericht
schienen unhaltbar und man wartete in
Wissen-schaftlerkreisen auf einen Eklat. Diesen
brachte Darwins Buch über die Entstehung der
Arten 1859. - Gould (2002) vertritt heute erneut eine
Diskontinuitäts-Hypothese er spricht von
punctuated equilibria.
28Darwin der Beginn einer Theorie des
Sprachursprungs
- Unmittelbar nach seinem Buch zur Abstammung des
Menschen (1871) veröffentlichte Darwin ein Buch
über den Ausdruck der Gemütsbewegungen bei
Menschen und Tieren (The Expression of Emotion
in Man and Animals). Bereits früher hatte Darwin
darauf hingewiesen (ibidem 150), dass Affe und
Mensch nicht nur körperliche Ähnlichkeiten und
Ähnlichkeiten des Geschmacks und der Anfälligkeit
für Parasiten aufweisen, auch das Weinen und
Lachen, also grundlegende Ausdrucksmuster, weisen
auf eine Verwandtschaft hin. - Nach 1872 verbesserte und erweiterte Darwin zwar
die weiteren Auflagen der beiden Bücher zur
Evolution, er zog sich aber aus der immer
heftiger werdenden öffentlichen Diskussion
zurück.
29Aktuelle Modelle des Sprachursprungs oder nur
neue Mythen?
- Mit der Entwicklung der Genetik wurde die
Darwinsche Theorie zur so genannten
Synthe-tischen Theorie vervollständigt (Fisher,
1930). - Die Populationsgenetik (Cavalli-Sforza, 1996) und
die Analyse der DNA (Mitochondrien- und Kern-DNA)
lebender oder ausgestorbener Populationen hat um
die Millenniumswende eine Situation geschaffen,
in der Fragen nach dem Ursprung des Menschen,
seiner Kultur und Sprache zumindest im Ansatz mit
naturwissenschaftlichen Methoden angegangen
werden können.
30- Folgende Fakten sind Eckpunkte jeder zukünftigen
Erklärung - Der letzte gemeinsame Vorfahre von Mensch und
Schimpanse (dem nächststehenden Primaten) lebte
vor ca. 5-7 Millionen Jahren. Die vergleichende
Verhaltensforschung kann davon ausgehend
versuchen, das Kommunikations- und
Sozial-verhalten unserer Vorfahren
Australopithecus Homo habilis/erectus/ergaster
Homo sapiens (archaischer Typus) abzuschätzen. - Die Mutationsrate der Mitochondrien-DNA erlaubt
eine Berechnung der Ausgangspopulation aller
heute lebender menschlicher Populationen vor
400-200 000 Jahre (mindestes 10 000 Personen).
31- Der moderne Mensch ist vor etwa 80. 000 Jahren
aus Afrika nach Eurasien eingewan- dert (nach
Europa erst vor 40.000 Jahren). Seine Anatomie
(auch die des rekonstruier-baren
Artikulationstraktes) ist weitgehend mit der des
heutigen Menschen identisch. - Eine ausgefeilte Werkzeugtechnik und eine
hochentwickelte Höhlenkunst existierte mindestens
seit 70. 000 bzw. 35.000Jahren. - Diese Daten ergeben die folgende grobe Zeitskala
für einzelne Evolutionsstufen der menschlichen
Sprache
32Evolutionäre Zeitskala
Vorgeschichte des letzten gemeinsamen Ahnen von Mensch und Schimpanse (Evolution grundlegender Fähigkeiten) Aufrechter Gang, Werkzeugge-brauch, Ausbreitung von Afrika nach Eurasienab 1,7 Mill. J. (bis 15.000 v.h.) Entstehung des modernen Menschen, Ausbreitung über die Erde Entwickelte Steintechniken, Kunst und Schmuck. KulturKunstTechnik Großräumige, vernetzte Gesellschaften Verdrängung der Neandertaler.
60. Mill. bis 7 Mill. J.v.h.. Beginn 2,3 bis 1,7 Mill. J. v.h. 400 000 bis 100 000 J. v.h. Seit 50 000 J. v.h.
Grobe Skala evolutionärer Ereignisse mit
möglichem Bezug zur Evolution der Sprache.
33Parallelen zwischen Mythen und aktuellen
Modellvorschlägen
- Mensch und Affe werden als Varianten angesehen
(vergleichbar mit erwähnten Mythen). - Condillacs Sprache des Handelns und die Nähe
der Gesten zur Sprache etwa von Taubstummen wird
heute als gestischer Ursprung wieder
aufgenom-men. - Die Hierarchie der kognitiven Fähigkeiten
kulminiert in der Sprachfähigkeit (einige
Mythen und Condillacs sensualistischer Ansatz).
Die Rolle des Gehirns hat auch Herder in seiner
Spätschrift (Ideen) hervorgehoben. Die sog.
spandrel-Modelle sehen in der Evolution der
Sprache einen Nebeneffekt der Evolution des
Gehirns.
34Einschränkende Bedingungen für jedes
wissenschaftliche Modell des Sprachursprungs
- Auch Mythen unterliegen Einschränkungen, die sich
z.B. in der bevorzugten Abfolge der
Schöpfungsschritte oder in der Technik der
Formgebung (z.B. aus Lehm) und der Beseelung
(durch den Odem Gottes) zeigen. Häufig spielen
auch Einheitlichkeit (gemeinsamer Ursprung) und
Diversität (Divergenz) menschlicher Sprachen eine
Rolle. Im 18. Jh. kamen der Vergleich mit
Tiersprachen, die Berücksichtigung der großen
anthropologischen Variabilität der Kulturen und
Sprachen und die Analyse von Ausfallserscheinungen
Kaspar-Hauser-Fälle, Taubstumme sowie
Erkenntnisse zur Rolle des Gehirns für die
Sprache hinzu.
35Der Sprung vom Mythos zum Modell
- Die Erklärung muss im Rahmen einer mehrfach
abgestützten Theorie, in unserem Falle der
synthetische Theorie, d.h. der aktuellen Fassung
der Evolutionstheorie Darwins (seit 1959),
erfolgen. Dies bedeutet, dass Veränderungen auf
zufällige Mutationen und deren epigenetische
Folgen zurückzuführen sind. - Alle Funktionen, Wirkungen sind durch einen
Selektionsprozess zu erklären, der allerdings auf
sehr unterschiedlichen Ebenen erfolgen kann - durch innerkörperliche (oder gar molekulare)
Selektion, - durch sexuelle Selektion (Präferenz für saliente
Eigenschaften) - Durch die Reaktion auf Naturkatastrophen und
Klimaänderungen.
36- Für die jeweilige Selektionsform müssen
Submodelle mit realistischen Zeitspannen für die
Interaktion von Mutationen (deren Expression) und
Selektion. - Der sog. drift, zufälliger Verlust von
Varianten, muss berücksichtigt werden. - Die Selektion sozialen und insbesondere
altruistischen Verhaltens muss erklärt werden. - Wegen der statistischen Natur der Mutationen und
der Dynamik von Selbstorganisationsprozessen
sollten diese Modelle eine mathematische Form
haben und am Rechner simulierbar sein.
37Aktuelle Probleme
- Die weitere Entwicklung in der Sprachursprungsfors
chung hängt entscheidend davon ab, ob harte
einschränkende Bedingungen und exakte
(mathematisierte) Submodelle, deren Voraussagen
falsifizierbar sind, gefunden werden. - Sie verbietet Deus-ex-machina-Lösungen und muss
ähnliche ad-hoc-Erklärungen abwehren und damit
klare Bewertungs-maßstäbe für wissenschaftliche
Modelle schaffen. - Wesentliche Informationen fehlen allerdings und
müssen entweder durch Zufallsfunde ergänzt werden
oder durch neue Techniken aus vorhandenen Daten
extrahiert werden. Insbesondere fehlen
Informationen über - Die kulturelle und soziale Evolution von 100.000
bis 40.000. - Den Ausbreitungsweg out of Africa nach 80.000
und über die klturelle/soziale Entwicklung auf
diesem Weg. - Zu möglichen Rückwanderungen nach Afrika und zum
Gen- bzw. Kulturaustausch mit anderen Arten, die
sich aus der Homo erectus Population entwickelt
haben (z.B. den Neandertalern).
38Die funktionale Kontinuität zwischen Mythen und
Modellen
- Der Mythos hat die Funktion einer Fundierung des
Heute, des unmittelbar Gegebenen in einer
Realität illo tempo. Er enthebt das Phänomen,
in unserem Falle die Sprache, der Zufälligkeiten,
der Bewertungsschwankungen in der Jetzt-Zeit und
schafft ein nicht kritisierbares Ideal, an dem
jetziges Verhalten gemessen werden kann. - Die wissenschaftliche Theorie führt diese
Strategie inso-fern fort, als sie eine
Architektur der (kausalen) Begrün-dung aufbaut,
für die ein letztes Fundament postuliert werden
muss. Wegen der Position solcher Postulate am
Anfang einer Begründungskette können sie aber nur
geglaubt werden. - Verändert man dieses Fundament, etwa bei einem
Paradigmenwechsel, wird diese letzte Wahrheit
zum billigen Konstrukt die Theorie wird
demystifiziert.
39- In der Logik dieser Interpretation sind alle
Antworten auf die Ursprungsfrage Mythen und
zugleich notwendige Schlusssteine eines
theoretischen Fundierungsprozesses. - Das Resultat des Fundierungsversuches erscheint
einerseits als eine besondere Leistung und somit
als gewichtig, es ist aber andererseits labil, so
dass ein schneller Wechsel der Bewertung von
hoher Bedeutsamkeit zum trivialen Konstrukt
stattfinden kann.
40- Dennoch gibt es immer mehr Methoden und
Argumentationsarchitekturen, welche die Variation
der Modelle im Hinblick auf eine zunehmende
Verbesserung und auf eine zukünftige
Brauchbarkeit gestatten. - Diese Kumulation von Lernfortschritten ist
allerdings in den Naturwissenschaften wesentlich
stärker entwickelt als in den Geistes- und
Kulturwissenschaften. - So notwendig der Begründungsdiskurs für die
Wissenschaft ist, so beinhaltet er doch auch ein
Moment der Machtergreifung, die dem Gestus des
Mythen-Erzeugens nicht unähnlich ist.
41Einige bibliographische Hinweise
- Cassirer, Ernst. 1946, Language and Myth. New
York/ London. - Condillac, Etienne Bonnot de, 1746/1973. Essai
sur lorigine des connaissances humaines. Paris
Galilée Erstausgabe 1746. - Darwin, Charles, 1859. On the Origin of Species
by means of Natural Selection, or the
Preservation of Favoured Races in the Struggle
for Life. London (deutsch 1960, Stuttgart). - Darwin, Charles, 1872/1969. The Expression of the
Emotions in Man and Animals. Reprint, Brüssel
1969 Erstausgabe London 1872. - Gould, Stephen Jay, 2002. The Structure of
Evolutionary Theory, Belknap Press, Cambridge
(Mass.). - Herder, Johann Gottfried, 1770/1966. Abhandlung
über den Ursprung der Sprache. Stuttgart Reclam.
42- Herder, Johann Gottfried, 1784/1966. Ideen zur
Philosophie der Geschichte der Menschheit,
Melzer, Darmstadt (Erster Teil, 3. bis 5. Buch). - Lincoln, Bruce, 1999. Theorizing myth. Narrative,
ideology, and scholarship. University of Chicago
Press, Chicago. - Maynard Smith, John und Eörs Szathmary, 1999. The
Major Transitions in Evolution, Freeman, New
York. - Wildgen, Wolfgang, 2003. Die Repräsentation von
Mensch, Tier (und Pflanze) und ihres
Verhältnisses seit der Antike. In Freudenberger,
Silja Hans Jörg Sand-kühler (Eds.),
Repräsentation, Krise der Repräsen-tation,
Paradigmenwechsel. Frankfurt Lang 301-340. - Wildgen, Wolfgang, 2004. The Evolution of Human
Languages. Scenarios, Principles, and Cultural
Dyna-mics. Benjamins, Amsterdam. - Wildgen, Wolfgang, 2006. The Semiotic Hypercycle
and the Run-Away Process of Linguistic (Symbolic)
Evolution, Conference Cradle of Language,
Stellenbosch (RSA), 7.11.2006.