Title: Folie 1
1Prof. Dr. Ludwig Siep Praktische Philosophie
II Einführung in die politische
Philosophie Locke, Rousseau, Kant, Rawls
2Weiterentwicklung der Theorie des neuzeitlichen
souveränen Staates im 17. und 18.
Jahrhundert John Locke (1632-1704) Der Mensch
hat ein Recht auf sich selbst und sein Eigentum
(Leben, Leib, produzierte oder erworbene Güter).
Er ist aber auch zur Gattungserhaltung
verpflichtet. Erst wenn durch die kulturelle
Entwicklung (vor allem Geldwirtschaft) die
lockeren Formen von Familien- und
Sippenherrschaft unmöglich werden, wird ein
Staatsvertrag nötig. Er muss die Rechte der
Individuen (Grundrechte) und ihre Gleichheit vor
dem Gesetz sichern. Dazu muss die Souveränität
geteilt werden zwischen der Gesetzgebung der
Bürger (Legislative) sowie der Rechtsdurchsetzung
und der Außenverteidigung (Exekutive,
Föderative). Die Gesetzgebung (Legislative durch
Abgeordnete) ist die höchste Gewalt und kann der
Exekutive Widerstand leisten, wenn der Auftrag
(trust) zur Sicherung der Individualrechte nicht
erfüllt wird. Auch einzelne Bürger dürfen
gewaltsam Widerstand leisten, wenn in die
Grundrechte einer größeren Zahl wiederholt von
Seiten der Obrigkeiten eingegriffen wird.
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3 Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) Der Mensch
ist durch seine Vernunft zur Freiheit bestimmt.
Diese kann auf der derzeitigen Kulturstufe der
wechselseitigen Abhängigkeit (durch
Arbeits-teilung und Wettstreit um Ansehen) nur
erhalten werden durch einen Vertrag zur
Herstellung eines allgemeinen Willens. An
diesem partizipiert jeder Bürger als Mitglied der
Gesetzgebung (direkte Abstimmung der
Vollbürger). Er ist zugleich Souverän
(Gesetzgeber) und Untertan (zum
Gesetzesgehorsam verpflichtet) Eine solche
Selbstgesetzgebung (Autonomie) ist nur in strikt
allgemeinen Gesetzen möglich (formal, material
und prozedural allgemein von allen, für alle,
unter Beteiligung aller). Das setzt einigermaßen
gleiche Interessen voraus (nicht zu große
Vermögensunterschiede, gemeinsame
Wertvor-stellungen). Die Gesetzgeber dürfen die
Gesetze nicht selber ausführen (Gewaltenteilung).
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4Immanuel Kant (1724-1804) Der Mensch ist durch
seine Vernunft zur Autonomie bestimmt. Er muss
sich Gesetzen unterwerfen, die strengen
Vernunftkriterien entsprechen. Dazu kann er
Menschen, die sich keiner gemeinsamen
Rechtsordnung unterwerfen wollen, auch zwingen.
Nur Herrschaft aufgrund allgemeiner, öffentlich
bekannter Gesetze ist vernünftig und mit der
Freiheit im Einklang. Die Anwendung der Gesetze
ist ein vernünftiges Schließen von der Regel auf
den Einzelfall. Dies macht die Gewaltenteilung
zwischen Legislative (oberste Gewalt), Exekutive
und Judikative nötig. Teilhabe an der
Gesetzgebung setzt persönliche Unabhängigkeit,
d.h. Selbsterhaltung durch Eigentum voraus. Dies
ist nur den Vollbürgern möglich, die Übrigen
sind Schutzgenossen, deren Grundrechte
(Schutzrechte, nicht Mitwirkungsrechte) nicht
beschränkt werden dürfen. Das Verhältnis zwischen
den Staaten muss ebenfalls vernünftig sein, d.h.
einem System von Rechten unterworfen werden. Das
Völkerrecht verbietet den Angriffskrieg und
fordert einen Bund souveräner Staaten zur
Konfliktverhütung bzw. rechtlichen
Konfliktschlichtung (20. Jh. Völkerbund, UNO).
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5- Resultat dieser Entwicklung der politischen
Philosophie ist die moderne, rechtsstaatliche
Republik - Ein Staat, der mittels Gesetzen und
Gewaltenteilung die Rechte jedes Bürgers und das
Gemeinwohl sichert. -
- Zur Begrenzung und Teilung der Gewalten gehört
- a) Wahl und Abwahl der Regierungen
- b) begrenzte Amtszeit
- öffentliche Rechenschaft
- Gesetzesförmigkeit der Verwaltung (nur
Erlasse, die sich auf Gesetze gründen) - Prüfung der Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit
durch ein oberstes Gericht - Widerstandsrecht der Bürger
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6John Rawls (1924-2002) Eine Theorie der
Gerechtigkeit (dt. 1975) Rawls will den
grundrechtssichernden, gewaltenteiligen,
demokra-tischen, sozialen Staat der Neuzeit durch
eine spieltheoretische Neufassung der
Vertragstheorie rechtfertigen. Unter fairen
Ausgangs-bedingungen sollen die
Kooperationspartner über faire
Verteilungs-regeln entscheiden. Fair ist die
Situation des Vertragsabschlusses a) wenn jeder
frei seine Zustimmung geben kann oder nicht, b)
wenn keiner benachteiligt oder unter Druck
gesetzt ist. Faire Ausgangsbedingungen bestehen
dann, wenn niemand weiß, welche Position er
später in der Gesellschaft einnehmen wird
(Schleier des Unwissens). Niemand soll in die
gesellschaftlichen Grundregeln Begünstigungen für
bestimmte Positionen einbauen.
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7 In einer solchen Ausgangsposition (original
position) wählt man nach Rawls zwei Grundsätze
der gesellschaftlichen Gerechtigkeit 1.
Jedermann soll gleiches Recht auf das
umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten
haben, das mit dem gleichen System für alle
anderen verträglich ist. 2. Soziale und
wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu
gestalten, dass (a) vernünftigerweise zu
erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil
dienen, und sie (b) mit Positionen und Ämtern
verbunden sind, die jedem offen stehen (TG
81). Ausführlicher Soziale und wirtschaftliche
Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen
sein a) sie müssen unter der Einschränkung des
gerechten Spargrundsatzes (für zukünftige
Generationen) den am wenigsten Begünstigten
(worst off) den größtmöglichen Vorteil bringen,
und b) sie müssen mit Ämtern und Positionen
verbunden sein, die allen gemäß fairer
Chancengleichheit offen stehen ( TG 336).
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8 Der erste (Freiheitsprinzip) folgt daraus, dass
alle möglichst viel Bewegungsfreiheit zur
Verfolgung der ihnen jetzt noch unbekannten
Lebenspläne haben wollen (strategisch). Dazu
sind die Grundfreiheiten (Denkfreiheit,
Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit etc.)
nötig. Beim zweiten (Differenzprinzip) folgt a)
die Ungleichheit aus dem Gesetz der Anreize
(mehr Leistung nur wenn es sich lohnt) b) die
Optimierung des Anteils der Schlechtestgestellten
(worst off) aus dem Maximin-Prinzip (der
kleinste Anteil soll größtmöglich sein - evtl.
zuvor die Verteilungsregel wer aufteilt, wählt
zuletzt).
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9 Aus dem Vertrag und den beiden Prinzipien leitet
Rawls in einem vier Stufen Gang die Institutionen
des Staates ab 1. Wahl der Grundsätze selber.
2. Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung,
die eine Verfassung für die Positivierung vor
allem des ersten Grundsatzes schafft (die
Institutionen Parlament, Regierung, Gerichte usw.
müssen den Grundfreiheiten die besten
Verwirklichungsmöglichkeiten geben). Der Schleier
des Unwissens hebt sich ein Stück (Größe des
Landes, Knappheit oder Reichtum, Minoritäten etc.
repräsentative oder direkte Demokratie, ein
oder zwei Kammern, Präsident oder Kabinett?).
3. Gesetzgebung, in der Grundrechte und
Wirtschaftspolitik konkretisiert werden
(Legislative). Jetzt geht es um faire
Güterverteilung, Sozialstaat, Bildung etc. Dabei
muss die schon zugrunde liegende Verfassung der
Freiheit (Wahlrecht, Koalitionsrecht,
repräsentative Gremien etc.) eingehalten werden.
Also zweites Prinzip unter den Bedingungen des
ersten.
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10 4. Durchführung der Gesetze in der Exekutive
(nach den Bedingungen der Verfassungs- und
Gesetzesadäquatheit auch der übergesetz- lichen
Fairness) und der Judikative (unparteiische
Rechtssprechung, fair trial, nulla poena sine
lege, in dubio pro reo etc.). Hierhin gehören
die Probleme der ungerechten, aber legal
zustande gekommenen Gesetze (bürgerlicher
Ungehorsam, Weigerung aus Gewissens- gründen
etc.).
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11 Die Diskussion um Rawls Theorie der
Gerechtigkeit kreist um folgende Punkte 1. Ist
die ursprüngliche Position genügend neutral
(pluralistisch, unab-hängig vom historischen
Liberalismus)? 2. Sind die Verteilungsregeln
zwingend (Ungleichheit bringt mehr, bei
Nicht-wissen risikoscheu)? 3. Dürfen
Risikoüberlegungen eingehen, die von persönlichen
Unter-schieden mitbestimmt sind etc.? 4. Wie
steht es mit den Schichten oberhalb der
worst-off? Kann die Spitze nicht extrem hoch
(nach oben offen) sein, solange es den Unteren
ein wenig besser geht? Oder gilt das chain
principle (jede Verbesserung schlägt gleichmäßig
auf alle Schichten durch)?
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- 5. Muss die Lage der am schlechtesten Gestellten
(worst off) kontinuierlich verbessert werden
(permanente Sozialreform) oder ist das Prinzip im
Systemvergleich gemeint (die beste Staatsform und
Wirtschaftsverfassung ist die, in der es den
worst off am besten geht)? - 6. Wie steht es mit der Entscheidungstheorie und
dem Differenzprinzip beim späten Rawls? - Rawls hat seit den 80iger Jahren mehr und mehr
auf spieltheoretische Überlegungen verzichtet und
stattdessen seine Theorie als eine Rekonstruktion
der modernen Staatsverfassungen verstanden, in
denen Freiheit und Gerechtigkeit die obersten
Werte darstellen. -
- Vgl. W. Hinsch (Hrsg.), Zur Idee des politischen
Liberalismus, stw 1296.
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