Title: Dynamische Systemtheorie und kognitive Linguistik
1Dynamische Systemtheorie und kognitive Linguistik
Wolfgang Wildgen
- Wintertagung
- Vernetzte Wissenschaft
- Galtür 25.3.- 31.3.2006
2Die Entwicklung exakter Modelle seit 1940
- Den Hintergrund exakter Modellbildungen der
sprachlichen Kognition bilden Synthesebewegungen
der 20er Jahre, bei denen zwischen Psychologie,
Biologie und Physik eine gemeinsame
Theoriebildung, eine gemeinsame Systemsprache
gesucht wurde. - Bertalanffys Buch Theoretische Biologie von
1932 skizzierte das Programm einer einheitlichen
wissenschaftlichen Theorie mit der Gründung der
Gesellschaft für Allgemeine Systemforschung wurde
das Programm weiter spezifiziert. - Major functions are to (1) investigate the
isomorphy of concepts, laws, and models in
various fields, and to help in useful transfers
from one field to another (2) encourage the
development of ad-equate theoretical models in
the fields which lack them (3) mini-mize the
duplication of theoretical effort in different
fields (4) promote the unity of science through
improving communication among specialists.
(Bertalanffy, 1968 15)
3Statische Strukturen Atome, Moleküle, Kristalle
Uhrwerke Uhren, Maschinen, das Sonnensystem
Kontroll-Maschinen Thermostat, Selbstregelungen
Offene Systeme Flamme, Zelle, Organismus
Niedere Lebewesen pflanzenähnliche Lebewesen
Tiere Informationstransfer, Lernen
Menschen Symbolverwendung, Bewusstsein, Sprache
Soziokulturelle Systeme soziale Lebewesen, Kulturen (beim Menschen)
Symbolische Systeme Sprache, Logik, Mathematik, Wissenschaft, Kunst ...
Implikative Hierarchie der System-ebenen bei
Bertanffy
4Erste neuronale Modelle
- Für die konkrete Modellierung einfacher
kognitiver Prozesse waren die Arbeiten von
McCulloch und Pitts (1943) A logical calculus of
the ideas immanent in neural nets von
program-matischer Bedeutung. Mit ihnen beginnen
Minsky und Papert (1988) ihren Rückblick auf die
Entwicklung exakter Modelle für kognitive
Prozesse. - 1947 gelang den beiden Forschern ein Durchbruch.
Sie hatten die praktische Aufgabe zu lösen, einen
Apparat für Blinde zu konstruieren, der diesen
ermöglichen sollte, eine gedruckte Seite mit
Hilfe des Ohres zu lesen. - Ihr Schaltbild zeigte eine Analogie zur Struktur
des Sehzentrums und sie entwickelten eine
Theorie, welche Eigenschaften der Anatomie und
Physiologie des Sehzentrums mit einer
tech-nischen Simulation des Leseprozesses
verband, d.h. von ihnen stammen die ersten
neuralen Netzwerke.
5Die weitere Entwicklung
- Ende der vierziger Jahre fasste der Psychologie
Donald Hebb die Ansätze zu einer Netzwerktheorie
des Denkens in seinem programmatischen Buch The
Organization of Behavior zusammen. Als Träger
höherer neuronaler Prozesse treten Zellverbände
und deren Interaktion in Netzen auf. - Im Gefolge der Kybernetik konstruierte man
einfache lernende Maschinen (meist über
Verstärkermechanismen, d.h. Erfolgs-messungen und
Adaptionen). - Symbolmanipulierende Rechner erlaubten abstrakte
Modellbildungen für höhere kognitive Fähigkeiten
(inklusive der Sprache) allerdings ging dabei
oft der Bezug zu realen Prozessen im Gehirn
verloren. Es gab eine Grenzziehung
parallel processing serial processing
learning programming
emergence analytic description
6Modelle der Wissensrepräsentation
- Minsky und Papert (1988) nennen als neue und
weiterführende Ideen - ... many new and powerful ideas among them
frames, conceptual dependency, production
systems, word-expert-parsers, relational data
bases, K-lines, scripts, nonmonotonic logics,
semantic networks, analogy generators,
cooperative processes, and planning procedures. - These ideas about the analysis of knowledge and
its embodiments, in turn, had strong effects not
only in the heart of artificial intelligence but
also in many areas of psychology, brain science,
and applied expert systems. - In den 80er Jahren wurde das Interesse an
neuronalen Netzwerken und einer gehirnanalogen
Simulierung kognitiver Prozesse wieder aktuell
(unter den Stichwörtern massiv parallele
Verarbeitung, PDP parallele, distribuierte
Prozesse, neuronale Netzwerke, Neurocomputer).
7- Eine neue Aufteilung in der Modell-Landschaft
(etwa seit den 90er Jahren)
A (Computerwiss.) B (Neurowiss.) C (Humanwiss.)
Programmierte Simulationen Syntax, Semantik Pragmatik Lernende Maschi- nen, Neurocomputer, Sprach- und Denk-Roboter Sprachphilosophie Sprachtheorie, Grammatik als Hermeneutik
Die weichen Modelle tendieren stark zu (C),
beziehen sich aber lokal auf (A) und (B).
8Dynamisch-topologische Semantik nach Thom (1972)
- Die dynamische Semantik ist primär ontologische
orientiert. Dies zeigt sich z.B. in Thoms Konzept
einer Semiophysik, d.h. es wird ein direkter
Anschluss der Zeichentheorie (Semiotik) an die
Naturwissenschaften (Physik und Chemie) gesucht. - Das Gehirn wird eher als eine Konsequenz der
biologischen Morphogenese und damit nicht als der
eigentliche Ort der Strukturgenese aufgefasst. - Erst in Arbeiten in der Folge von René Thom
(Petitot, Wildgen, Brandt u.a.) wird auch die
Kognitions-wissenschaft eingebunden.
9Der Klassifikations-Satz der Katastrophentheorie
als Ausgangspunkt
Name Germ Corang int.Variablen Codimension extern.Variablen Type
fold x3 1 1 A2
cusp x4 1 2 A3
swallow tail x5 1 3 A4
butterfly x6 1 4 A5
hyperbolic umbilic xy2y3 2 3 D4
elliptic umbilic xy2 - y3 2 3 D-4
parabolic umbilic x2y y4 2 4 D5
10Zwei Grundtypen der Dynamik (Attraktor) und
Instabilität (Repellor).
Die Hierarchie der Attraktorengebilde typisch für
die kompakten Katastrophen Kuspe (A3),
Schmetterling (A5) und Stern (A7).
11Der Prozess-Typus des Fangens
Derivation eines Prozess-Schemas (rechts) entlang
eines Pfades p im Vektor-Feld der Kuspe (A3).
12Erweiterung der dynamischen Formenwelt
Rössler-Attraktor (für die Werte a 0,035 b
0,46 c 4.5 cf. Plath and Wildgen, 2005).
Feigenbaum-Szenario (die Konstante k wächst von 2
bis 4 horizontal, die vertikale Achse betrifft
den Zustand x. Bei k 3 teilt sich die Kurve
bei k 3,58 hat der Bifurkationsbaum unendlich
viele Äste.
13Linguistische Anwendungen
- In der auditiven Wahrnehmung von Sprachlauten
sind bereits bei Säuglingen kategoriale Grenzen
nachweisbar d.h. nicht-lineare Reaktionen z.B.
auf eine kontinuierliche Steigerung des VOT
(Voice-Onset-Time). Viele phonologische Kontraste
wurden auf diese Weise als bereits vor dem
Spracherwerb auditiv verfügbar nachgewiesen. - Lokal sind solche nicht-linearen Grenzen
Katastrophen-linien in einem Kontinuum. Petitot
(1985) zeigte, dass die Vokalsysteme
verschiedener Sprachen das durch die beiden
ersten Formanten aufgespannte Feld in topologisch
und dynamisch vorhersehbarer Weise aufspalten.
14Lexikalische Semantik
- In der lexikalischen Semantik besteht das
Grundproblem darin, entweder einen sehr
differenzierten sensorischen oder motorischen
Bereich (siehe die Farbadjektive und die Verben
der Bewegung) in eine möglichst kleine Anzahl von
Grundschemata abzubilden (etwa die einfachen
Farb-adjektive oder Bewegungsverben) und in
Konstruktions-typen, die Mitspieler, Umstände,
Aspekte, Modi usw. kodieren. Die jeweilige
Distribution, z.B. der Momente eines
Handlungsszenarios auf Verb, Nominalphrase,
Adverbiale usw., ist von Sprache zu Sprache
verschieden. - Insbesondere lexikalische Ambiguität, Polysemie
und die Vagheit erfordern eine dynamische
Modellbildung.
15Dynamische Äquivalente für Talmys Space grammar
(1983)
Beispiel Ein Feld überqueren/durch ein Feld gehen
DURCH
Von einem Attraktor eingefangen BETRETEN
GEHEN (Weg)langsame Dynamik
Von einem Attraktor freisgelassen VERLASSEN
Attraktor Feld
16Beispiel Kausative und konditionale Satzfolgen
- The ball kept rolling because of the wind blowing
on it. - intrinsic force tendency of the Agonist (right)
towards rest (?), - the Antagonist (left) is stronger (?),
- intrinsic force tendency of the Antagonist
action (?), - result of the force interaction action ( ).
Talmy (1988)
17- roll Bewegung
- normale Folge Ende der Bewegung (A2).
- B. blow Energiegewinn
- C. because Ausgleich des möglichen Endes der
Bewegung durch den Energiegewinn als Verursachung - D. keep Gleichgewicht zwischen Verlust und
Zuwachs an Energie.
Ruhezustand
Ende der Bewegung als Falten-Katastrophe
Talmys Beispiel The ball kept rolling because
of the wind blowing on it.
Verselle Entfaltung des Zustandes als
Nicht-Realisierung des Anhaltens
18Prozesse des Sprachwandels
- Beim Sprachwandel ist besonders deutlich, dass
keine (bewusste) Regelanwendung, sondern quasi
ein naturwüchsiger Prozess vorliegt. Gleichzeitig
ist er auch das Produkt einer in Zeit und Raum
verteilten Kausalität, wobei einem
Quasi-Kontinuum von Ursachen ein kategoriales
Veränderungsmuster entspricht. Standardbeispiele
sind die großen Lautverschiebungen, die z.B.
Jakob Grimm benannt hat (germanische und
althochdeutsche Lautverschiebung). In späterer
Zeit (und besser beobachtbar) sind die große
Vokalverschiebung im Englischen, und noch in Gang
ist das von Labov (1994) untersuchte Northern
City Vowl Shift im Nordosten der USA. - Die Verzweigungen in der Entwicklung des langen
a vom Urgermanischen bis zum Neuhochdeutschen
und die große Vokalverschiebung des Englischen
wurden als Bifurkationsdynamik modelliert. Die
Entfaltung und Schrumpfung kategorialer
Landschaften in Raum und Zeit ist ein guter
Anwendungsfall der Katastrophentheorie in der
diachronen Linguistik.
19Metaphern Love is madness/magic
Argument is war
(A) (B) (C)
idea love argument time building, light-source, organism commodity, limb, patient container, machine, product fashion, madness, resource force, magic, seeing game, money, sending light-medium, object, war field up/down behind/ahead
Metaphorische Abbildungen nach Lakoff und Johnson
(1980) und Lakoff (1987)
20Fragen (aus einer dynamischen Perspektive)
- Wie stabil sind solche Abbildungen?
- Was passiert wenn die Abbildung iteriert wird?
Hat sie einen Chaos-Attraktor? - Wie komplex dürfen die Elemente sein, damit eine
Abbildung noch stabil ist? Gibt es Beschränkungen
der Dimensionalität? - Erhalten die Abbildungen eine Grundstruktur?
Reduzieren sie die Dimensionalität?
21Beispiel für einen Chaos-Attraktor bei iterierter
Abbildung
- Selbst eine zweidimensionaler Input (etwa eine
Video-Fläche) wird bei wiederholter Abbildung mit
leichten Deformationen von einem Chaos-Attraktor
beherrscht (cf. Peitgen et alii, 1992 277 ff.
). - Dieser ist von Input unabhängig (intrinsisch) und
kann zur Erstarrung in einem Standard-Muster
führen. - Ist die Abbildungsvorschrift dreifaches Kopieren
und Kombination im Dreieck bei Verkleinerung, so
erhalten wir bei beliebigen Ausgangsbild das
Sierpinski-Dreieck als Standard-Ergebnis einer
Reihe von Abbildungen.
22Dynamische Koppelung und Kompositionalität
- Die klassische Thematik der Koppelung mehrerer
dynamischer Systeme wurde am gekoppelten
Oszillator und am Phänomen der Resonanz
untersucht. Grundideen gingen in die Synergetik
als Lehre der Kooperation/Koordination einer
Vielzahl dynamischer Systeme und deren
Selbstorganisation zu höherer Ordnung ein. - Die Synergetik wurde auf kognitive Systeme von
Haken, Stadler, Kelso u.a. angewandt (siehe die
Analysen zu koordinierten Hand- und
Beinbewegungen oder zu tieríschen Bewegungsmodi
(etwa Gangarten bei Pferden) - Haken (1996) wandte diese Modelle auch auf die
Erkennung von Gesichtern und das grundlegende
Phänomen der Synchronisation and
Desynchronisation, wie sie bei menschlichen Tests
mit EEG- and MEG- Messungen aufweisbar sind. - Dabei spielt besonders das ?-Band (30-50 Hz) eine
gewichtige Rolle.
23- Die Bindung erfolgt primär (in gewissen
Zeitfenstern) temporal, und zwar dadurch, dass
Populationen von Neuronen (etwa 500-1000 Zellen)
synchron feuern. Die Synchronisierung kann sogar
über größere Distanzen im Gehirn erfolgen. - Das Problem der Bindung wird noch dadurch
verschärft, dass man dieser Synchronizität
eigentlich ansehen müsste, ob sich die Bindung
auf Eigenschaften (was?) oder auf (Orts-)
Befindlichkeiten (wo?) bezieht oder ob gar das
Verhältnis von Was und Wo Inhalt der synchronen
Gestalt ist (diese müssten quasi eine Signatur
tragen). - Werden die Aktivierungen von zwei Zellverbänden,
die z.B. die Gestalt (Dreieck oder Quadrat)
versus die Position (oben oder unten) angeben,
übereinander gelegt, so lässt sich bei
Anwesenheit von zwei Objekten (Dreieck über dem
Quadrat) nicht mehr ablesen, ob das Dreieck oder
das Quadrat oben ist d.h. die Relation geht
verloren.
24Wahrnehmung von Prozessen
- Bei Bewegungen müssen temporale Sequenzen erkannt
werden, die ebenfalls temporal kodiert werden,
und von der temporale Kodierung von statischen
Eigenschaften unterschieden werden müssen. Singer
(1999 50) schlägt eine parallele Kodierung
räumlicher und zeitlicher Muster vor. Im
Konfliktfall wird das prägnantere/relevantere
Muster gewählt (das andere unterdrückt ibidem). - Ein Prozess kann wiederum mit ihm anhaftenden
Eigenschaften, z.B. den am Prozess beteiligten
Größen, verbunden werden, ebenso wie die
Lokalisierung des Prozesses mit dem Prozess
selbst verbunden werden kann.
25Beispiel einer Bindung von Qualitäten und
Bewegungsformen
- Das Beispiel verbindet ein Nomen square mit
einem Adjektiv red und einen Verb bzw. Partizip
move bzw. moving - red moving square
- Wie bildet das Gehirn eine zusammengesetzte
Vorstellung aus Formeigenschaften, Farbqualitäten
und Bewegungsformen?
26Komplexitätsbegrenzungen
- Die Bindung durch Synchronisierung beinhaltet
auch eine Komplexitätsbegrenzung, die z.B. durch
die Aufmerksamkeitspanne des Arbeitsgedächtnisses
bedingt sein mag. Teisman (1999 108) schreibt
dazu - It the binding-by-synchrony hypothesis also
provides a plausible reason for the attentional
limit of around four objects that is widely
observed in the perception of brief displays and
in studies of visual working memory. The
different firing rates that can be easily
discriminated on a background of inherent noise
and accidental synchronies may set a low limit to
the number of objects that can be simultaneously
bound. - Damit werden bereits Festlegungen (Begrenzungen)
für mögliche Strukturen auch im Bereich der
Sprache (die durch den Filter der Wahrnehmung und
Aufmerksamkeitsselektion passen muss) angegeben.
27Selbstorganisation im Gehirn
- Die Bindungs-Konzeption birgt allerdings eine
weitere Problematik, die zu beachten ist. Die
gebundenen Reaktionen des Gehirns können durch
externe Stimuli angeregt, kontrolliert sein. In
diesem Falle entspricht dann die durch
Synchronizität erzeugte Bindung externen
Strukturen, es ergibt sich eine
Strukturabbildung Außen ? Innen. - Die Gehirnprozesse können aber auch durch interne
Prozesse ohne äußere Kontrolle synchronisiert
werden, so dass Struktur entsteht. - Finally, it is to be expected that there are
processes in the brain that are based on
self-paced coordination of both the timing and
the amplitude of distributed neuronal activity
and are only loosely, if at all, time locked to
externally measurable events. (Singer, 1999 54)
28Verb-Valenz und Grenzen der stabilen Bindung
- Die unabhängig von neurologischen Über-legungen
vorgeschlagene topologische Stabilitätsbegrenzung
von verbalen Mustern (Valenz) kann innerhalb der
Gehirndynamik eine empirische Bestätigung
erhalten. - Die Gehirndynamik spiegelt also in gewisser Weise
Komplexitätsbegrenzungen auch der physischen
Gestalten (Köhler) und stellt somit eine Art
ikonisches Skelett der Zeichen-gebung (Semiose)
dar.
29Für weitere Materialen siehehttp//www.fb10.uni-
bremen.de/homepages/wildgen.htm
- Rubrik Dynamische Modelle
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